„Was ist mit dem angeblichen Fachkräftemangel?“ – So verzweifeln Arbeitssuchende am System

Eine Jobmesse in Wedding zeigt die Lücken im Arbeitsmarkt – trotz Milliardenkosten fürs Bürgergeld finden viele keinen Job. Warum? Ein Report.
Die Luft über dem Leopoldplatz flirrt in der Mittagshitze. Ein scharfer Wind zerrt an Bannern, die Worte wie Zukunft, Chancen, Integration versprechen. Zwischen Infozelten und mobilen Bühnen tummeln sich Menschen. Sie sprechen Arabisch, Ukrainisch, Serbisch, Deutsch mit Akzent. Eine Frau mit Kopftuch spricht leise mit einem Berater, ein junger Mann mit Collegejacke tippt nervös auf seinem Handy. Auf der Bühne singt ein Mann „My Way“ von Frank Sinatra. Applaus brandet kurz auf, dann zerfasert er wieder im Stimmengewirr zwischen den Buden.
Rund 97 Arbeitgeber, Bildungsträger und Initiativen haben sich eingefunden – zum „Tag der Möglichkeiten“, organisiert von den Berliner Jobcentern Lichtenberg, Friedrichshain-Kreuzberg, Mitte und Marzahn-Hellersdorf. Es ist der Abschluss einer Aktionswoche, die zeigen soll, wie Integration in Arbeit gelingen kann. Und eine Antwort auf die drängende Frage: Wo sind sie, die vielen fehlenden Fachkräfte? Hier etwa?
Die Antwort liegt vielleicht irgendwo zwischen den Warteschlangen, den Formblättern auf den Stehtischen und den Plastikstühlen in der Sonne.
Vor einem weißen Stand mit dem blauen Logo stapeln sich Kugelschreiber, Infoflyer und laminierte Kursübersichten. Nadin Echost, eine Frau mit ruhiger Stimme und wachen Augen, steht dahinter. Sie arbeitet für den Bildungsanbieter FlexiBil. Seit Stunden erklärt sie immer wieder das Gleiche: „Über 300 Kurse, jederzeit startbar – online, hybrid oder vor Ort. Wir passen uns den Menschen an.“ Ein freundliches Lächeln, routiniert, fast mechanisch. Ihre Kollegin Ulrike Andrae nickt. „Wir reden uns den Mund fusselig“, sagt sie. „Aber viele wissen gar nicht, dass es solche Angebote gibt – oder dass sie Anspruch darauf hätten.“

Die häufigsten Probleme an diesem Tag? Echost zögert keine Sekunde. „Sprache. Und Anerkennung.“ Viele, die hier vorbeikommen, hätten jahrelang als Ingenieurin gearbeitet, als Lehrer, in der Pflege. Sie brächten Erfahrung mit – aber keine Papiere, die hier zählen. Oder sie müssten monatelang durch Prüfungen, Gutachten, Übersetzungen. „Und am Ende steht dann trotzdem, dass es nicht reicht“, sagt Andrae.
Kristina, 29, Eventkauffrau: „Konkrete Angebote gibt es selten“Kristina ist eine der Jobsuchenden an diesem Tag. Sie trägt eine helle Bluse, dunkle Jeans und ist zum zweiten Mal in dieser Woche auf einer Jobmesse. Sie spricht mit Personalverantwortlichen, lässt ihren Lebenslauf da, fragt nach Einstiegsmöglichkeiten. Immer wieder, freundlich, bestimmt, wie sie sagt. Ihre Mutter, die neben ihr steht, nickt eifrig. Kristina sagt: „Die Gespräche verlaufen auch immer höflich. Doch konkrete Angebote gibt es selten.“
Kristina, in Berlin geboren, die Eltern kommen aus Serbien, hat ihre Ausbildung zur Eventkauffrau abgeschlossen, jetzt bezieht sie Bürgergeld und hangelt sich von Projekt zu Projekt. Seit zwei Jahren ist sie ohne Arbeit. „Ich bewerbe mich überall“, beteuert sie. „Auch außerhalb meines Berufs. Im Büro, im Kundenservice, in der Logistik.“ Sie habe sogar versucht, im Einzelhandel unterzukommen. Manchmal heißt es, sie sei überqualifiziert. Manchmal, ihr fehle die Erfahrung. Abends hört sie im Freundeskreis immer wieder denselben Satz: „Überall fehlen Leute.“ Sie lächelt dann oder regt sich auf. „Ja, was ist mit dem angeblichen Fachkräftemangel?“, fragt sie jetzt auch. Ihre Mutter nickt wieder, diesmal empört.

Wenige Meter weiter steht Marcella, 38. Sie kommt aus Marokko, beschreibt sich als Künstlerin. Vor sechs Jahren kam sie nach Berlin. Sie arbeitete in Cafés, Bars, lernte Deutsch, stellte nebenbei erste Arbeiten aus.
Ihr Abschluss wird in Deutschland nicht anerkannt. Förderprogramme für eine Weiterbildung scheitern an fehlenden Unterlagen, die sie nicht aus dem Heimatland beschaffen kann. „Ich habe es versucht“, sagt sie. „Aber es ist, als gäbe es keine Tür für mich.“ Sie hält einen Flyer der VHS in der Hand. Ein Deutschkurs. Es wäre ihr dritter. Manchmal sei ihr das „alles zu anstrengend“, sagt sie.
Nackte Zahlen, die einiges über die Joblage in Berlin erzählenJobsuchende auf der einen Seite, Unternehmen, die händeringend suchen, auf der anderen. Dass es ein Dilemma und ungelöstes Problem ist, zeigen die Zahlen für Berlin: 218.000 Menschen waren im Mai in Berlin arbeitslos – knapp 19.000 mehr als im Vorjahr. Besonders betroffen: Menschen ohne Berufsabschluss. Und Menschen mit Migrationshintergrund. Rund 142.000 Menschen aus der Ukraine und den acht wichtigsten Asylherkunftsländern leben derzeit in Berlin im erwerbsfähigen Alter.
63.600 von ihnen haben Arbeit. Der Rest? Wartet, kämpft, zweifelt, taucht ab. Alles ist möglich. Einige von ihnen wollen in der Tat nicht arbeiten, das wissen auch die Jobvermittler. Doch das sei nicht die Regel, beteuert ein Mitarbeiter eines Trägers. Die Hürden seien hoch, die Verfahren lang, die Struktur oft unübersichtlich. Und die Jobangebote? Selten passgenau. Beratungsangebote, auch an diesem Tag vertreten, sind da. Werden auch oft genutzt. Die Lücken gibt es dennoch.
Folge: Deutschland gibt jährlich etwa 36 Milliarden Euro für das Bürgergeld aus. Dieses Jahr sollen die Ausgaben sogar auf 45,6 Milliarden Euro steigen. Eine soziale Absicherung – aber auch ein teures Stillstandssystem. Die Katze beißt sich in den Schwanz. Immer wieder. „Gescheiterte Integration“, nennt es einer auf der Jobmesse. Oder wie eine Frau sagt: „Oft prallen auch unvereinbare Kulturen aufeinander.“
Für ausländische Abschlüsse braucht es beglaubigte KopienEin IHK-Berater erklärt das System, auch, warum es nicht klappt, Menschen in Arbeit zu bringen. Rund 600 reglementierte Berufe in Deutschland, jeder mit eigenen Kriterien, zuständigen Stellen, Formularen. Für ausländische Abschlüsse braucht es beglaubigte Kopien, Übersetzungen, Wartezeiten. Selbst nichtreglementierte Berufe wie Marketing oder Gastronomie stoßen auf Unsicherheit: Wer entscheidet, ob jemand qualifiziert ist?
„Viele geben irgendwann auf“, sagt der Berater. „Nicht weil sie nicht wollen – sondern weil sie nicht mehr wissen, wo sie anfangen sollen.“ Andreas Peikert, Geschäftsführer des Jobcenters Marzahn-Hellersdorf, beschreibt diesen Umweg: Viele begännen in Helferberufen. In Küchen, Lagern, der Reinigung. Wenig Lohn, wenig Sicherheit. Aber eine erste Stufe. „Wir sehen, dass sich manche weiterqualifizieren“, sagt er. „Aber nicht alle schaffen es.“ Peikert sagt auch: „Wir brauchen andere Instrumente. Mehr Pragmatismus. Mehr Tempo.“

Und Messen wie diese, sagt Berlins Arbeitssenatorin Cansel Kiziltepe (SPD). „Vertrauen entsteht im Gespräch.“ Sie steht an diesem Vormittag mitten auf dem Leopoldplatz, hört zu, fragt nach, verspricht Besserung. Viele, sagt sie, hätten Potenzial – „aber sie scheitern an Formularen, Sprachbarrieren, und daran, dass ihre Abschlüsse nichts zählen“. Daran müsse man arbeiten.
Kiziltepe bleibt etwa eine Stunde, geht von Stand zu Stand, spricht mit Sozialarbeiterinnen, Projektkoordinatoren, Beratern. Beim Angebot für junge Zugewanderte unter 25 lässt sie sich erklären, wie Bildungswege begleitet werden – Schulabschlüsse, Ausbildung, Übergang in Arbeit. Alles kostenlos. Die Senatorin nickt, stellt Fragen. Was ist mit jenen ohne Aufenthaltstitel? Man versuche, sie in die richtigen Verfahren zu lotsen, heißt es – manchmal dauere das.
Dringend gesucht: Küchenhilfe, Sicherheitsdienst, ReinigungskraftSpäter steht sie bei einem Träger, der Alleinerziehende unterstützt. Wieder wird genickt, wieder ist vieles bekannt. Starre Arbeitszeiten, fehlende Kita-Plätze, Arbeitgeber, die keine Ausnahmeregeln für die Betroffenen wollen. Eine Mitarbeiterin sagt leise: „Und dann wird geschimpft, dass alle nur Teilzeit wollen. Dabei können viele Eltern gar nicht anders.“ Kiziltepe hört zu. Dann geht sie weiter, zum nächsten Stand, zur nächsten Hürde.
Am frühen Nachmittag ist die Musik verstummt, viele Stände werden abgebaut. Kristina steht noch einmal vor einer Säule, an der mit buntem Klebeband Jobangebote angebracht sind: Küchenhilfe. Sicherheitsdienst. Reinigungskraft. „Ist das wirklich alles, was mir bleibt?“, fragt sie leise. Dann geht sie weiter. Mit ihrem Lebenslauf in der Tasche, zur nächsten Messe.
Berliner-zeitung